20 Jahre Interaktive Bildschirmexperimente: Von den Anfängen bis zum erfahrungsbasierten Lernen in virtuell erweiterten Realumgebungen
Referent
Dr. Jürgen Kirstein, Freie Universität Berlin
Auf der Suche nach einem Medium, mit dem sich reale Experimente multimedial, d.h. interaktiv, multimodal und multicodal repräsentieren und damit didaktisch wesentlich flexibler als im linearen Medium Film einsetzen ließen, wurden 1996 erstmals Beispiele Interaktiver Bildschirmexperimente (IBE) entwickelt. Erste Erprobungen fanden an der Technischen Universität Berlin in der Vorlesung ”Einführung in die Physik für Ingenieure” statt. Die für Vorlesungen in der Experimentalphysik charakteristischen Demonstrationsexperimente waren hier aus praktischen Gründen nicht durchführbar. Ersatz wurde zunächst durch die Vorführung von 16-mm-Filmen geschaffen. Das nichtlineare Medium IBE erlaubte dagegen nicht nur die Kontrolle experimenteller Parameter, sondern verband diese Interaktivität mit der Repräsentation des Experiments durch reale Daten (Stopptrick-Animations-Fotoserien und Messdaten) und einer realitätsnahen Gestaltung des Benutzerinterfaces. Es ersetzte damit die didakaktische Funktion des Demonstrationsexperiments, erweiterte aber gegenüber dem Film den didaktisch-methodischen Gestaltungsraum für den Dozenten erheblich. Nicht zuletzt dadurch, da sich nun die Experimente aus der Vorlesung auch in anderen Lehrveranstaltungen räumlich und zeitlich flexibel einsetzen ließen, etwa im Rahmen des gemeinschaftlichen Lernens in Übungsgruppen, bei der individuellen Wiederholung oder auch für Prüfungszwecke. Die vielversprechenden Ergebnisse des Einsatzes von IBE führten in der Folge zu zahlreichen Studien für Anwendungen in Schule und Hochschule. Zur Produktion wurde ein mit digitaler Foto- und Videotechnik ausgestattetes Labor eingerichtet. Zentrale Probleme dabei waren der hohe Aufwand für die Entwicklung der IBE, aber auch ihre Einbettung in digitale Lernangebote sowie deren Verbreitung, auch im Rahmen offener Bildungsangebote.
Ausgehend von den didaktisch-technologischen Ergebnissen des IBE-Projektes entwickelte die AG Didaktik an der Freien Universität Berlin ab 2010 das Konzept des "Technology Enhanced Textbook" (TET), aus dem dann die Web-Applikation ”tet.folio” als online Autoren- und Lernumgebung weiterentwickelt wurde. Das tet.folio bietet unter anderem Online-Tools zur programmierfernen Herstellung, Einbettung und Verbreitung von IBE als flexibel einsetzbare Inhaltemodule. Für die technische Realisierung wurden ausschließlich quelloffene Standards wie HTML5, JavaScript und CSS3 eingesetzt. Das erlaubt vor allem die (mobile) Nutzung von IBE unabhängig vom Endgerät. Das Erstellen, Bearbeiten und Teilen interaktiver Inhalte wird auch durch die Lernenden mit den integrierten Werkzeugen (”tet.tools”) selbst möglich (Portfoliofunktion). Damit wird das tet.folio zu einer neue Plattform zur Gestaltung individualisierbarer Lerninhalte, die aktives Lernen nachhaltig über den gesamten Bildungsweg unterstützen. In einem für 2016 geplanten Projekt zum "Erfahrungsbasierten Lernen durch interaktives Experimentieren in virtuell erweiterten Realumgebungen" ELIXIER sind die IBE-Technologie und das tet.folio die zentralen Säulen zur Entwicklung einer personalisierten Mixed-Reality-Lernumgebung für die Experimentierpraktika der Hochschule und für berufliche Trainingssysteme, die eine nahtlose und mobil verfügbare Fortsetzung individueller Experimentierprozesse in virtuellen Umgebungen ermöglichen wird.